Start der vbw-Kampagne: Zukunft! Made in Bavaria!
15. Juni 2023VdL-Arbeitssicherheitstagung in Hartenstein
7. Juli 2023Anhörung zur Zukunft der Chemieindustrie und nachgelagerter Wertschöpfungsketten in Bayern
Vor dem Hintergrund der in der EU geplanten Reform des Chemikalienrechts mit wesentlichen Änderungen und Neuregelungen begrüßte der Ausschuss für Wirtschaft, Landesentwicklung, Energie, Medien und Digitalisierung am 15. Juni 2023 Sachverständige zu der Frage, welche Folgen sich daraus für Bayern ergeben. Besonders die Konsequenzen für die Chemieindustrie und nachgelagerte Industriezweige im Hightech- und Energiebereich wurden in der Anhörung, geleitet von Martin Stümpfig, GRÜNE, diskutiert.
In der von den Fraktionen der CSU und der FREIEN WÄHLER beantragten Anhörung der Expertinnen und Experten stand die geplante PFAS-Beschränkung und deren Auswirkungen im Fokus. PFAS sind per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, die auch als so genannte „Ewigkeitschemikalien“ bekannt sind, da sie sich in der Umwelt extrem langsam abbauen. Die Abgeordneten im Ausschuss für Wirtschaft, Landesentwicklung, Energie, Medien und Digitalisierung diskutierten mit den Sachverständigen die Risiken der PFAS sowie Hoffnungen, die in die Kreislaufwirtschaft gesetzt werden. Die Argumente bewegten sich dabei zwischen der Notwendigkeit von Verboten und der Zukunftsfähigkeit der chemischen Industrie im Freistaat.
Dr. Markus Born, Geschäftsführer der Bayerischen Chemieverbände, unterstrich die besondere Bedeutung der Chemieindustrie in der industriellen Wertschöpfung. Die etwa 430 Unternehmen aus der Chemie- und Pharmaindustrie in Bayern generieren mit rund 90.000 Mitarbeitenden um die 20 Milliarden Euro Umsatz jährlich. „Mehr als 95% aller industriellen Produkte brauchen Vorprodukte und Substanzen aus der chemischen Industrie“, erklärte Born und fährt fort: „Wenn man ehrlich ist, kommt keine einzige Branche ohne Chemie aus.“ Somit spiele die Chemie eine besondere Rolle in der industriellen Wertschöpfung. Das merke man besonders, wenn Stoffe fehlten, wie beispielsweise CO2 im Jahr 2022, als zwei Anlagen in der Chemie aufgrund der hohen Energiekosten gedrosselt wurden und in Folge nicht genügend CO2 für weitere Prozesse vorhanden war.
Mit dem Paradigmenwechsel der EU-Kommission weg von der Bewertung des Risikos eines Stoffes unter Betrachtung von Stoffeigenschaften sowie Exposition hin zu einer rein auf Stoffeigenschaften basierten Regulierung drohen Engpässe von ungeahntem Ausmaß. Die geplante EU-Chemikalienstrategie könnte durch zwei Maßnahmen, den stoffbasierten Regulierungsansatz und die Einführung neuer Gefahrenklassen, bis zu einem Drittel des Chemikalienportfolios betreffen (Cefic Studie 18.11.2021: Ökonomische Folgenanalyse zur EU-Chemikalienstrategie) und somit mögliche Mangelsituationen nicht nur vervielfachen, sondern sogar potenzieren, so der Geschäftsführer der Bayerischen Chemieverbände. Das derzeit laufende PFAS-Beschränkungsverfahren, das gem. EU-Chemikalienstrategie ein umfassendes Verbot der Herstellung, Verwendung und des Verkaufs von mehr als 10.000 PFAS vorsehe, ließe die Ausmaße bereits erahnen. Mehr als 10.000 Verbindungen würden in einem einzigen Vorgehen reguliert – die Möglichkeit einer sicheren Verwendung der betroffenen Stoffe werde komplett außer Betracht gelassen. Das Problem sei somit nicht in der Beschränkung der PFAS, sondern darin, dass mehr als 10.000 industriell erzeugten Substanzen als Gruppe über einen Kamm geschoren würden.
PFAS stecken nicht nur in wasserabweisenden Outdoorjacken, beschichteten Pizzakartons oder Teflonpfannen, sie werden auch eingesetzt bei der Beschichtung von Solarmodulen, von Rotoren für Windanlagen, in Kältemitteln in Wärmepumpen oder in Batteriezellen. In dieser Gruppe enthalten sind auch 38 Fluorpolymere, deren Eigenschaften wie Temperatur- und Chemikalienbeständigkeit nach Ansicht zahlreicher Fachleute unverzichtbar für die Industrie sind. „Es ist völlig irre, die vom Markt nehmen zu wollen“ erklärte beispielsweise Dr. Uwe Hellstern. Sie seien die Basis für Hochtechnologie. Ersetzen ließen sich die Substanzen nicht, denn sie hätten den Vorteil, dass sie resistent gegen aggressive Chemikalien seien.
Dieser Einschätzung folgte auch Dr. Michael Schlipf, Geschäftsführer der FPS GmbH. Er kritisierte ein Verbot der PFAS inklusive der 38 Fluorpolymere als unwissenschaftlich. Toxische Produkte gehörten zwar nicht in die Umwelt und müssten substituiert werden, die Fluorpolymere seien aber irrtümlich in der Gruppe der PFAS gelandet und sollten dringend herausgenommen werden.
Christine Völzow von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, vbw, schloss sich dem an und nannte die Fluorpolymere „elementar“. Die Leiterin der Abteilung Wirtschaftspolitik verwies auf die hohe Abhängigkeit vieler Branchen von den Zulieferungen aus der Chemieindustrie und warnte vor Engpässen durch die EU-Chemikalienstrategie und daraus resultierenden Kaskadeneffekten. Verbiete die EU diese Substanzen, dann sei auch ein Import nicht möglich, es drohten Wertschöpfungsverluste. Besser sei es, bei einer Risikoabwägung zu bleiben und je nach Anwendung zielgerichtet zu regulieren.
Es brauche von der Bayerischen Staatsregierung und der Bundesregierung ein sehr klares, starkes Signal, die Fluorpolymere aus dem PFAS-Dossier herauszunehmen, erklärte auch Born: „Bei der ganzen EU-Chemikalienstrategie muss jemand die Notbremse ziehen“.
„Weiter so wie bisher ist keine Option“, sagte Janna Kuhlmann vom Bund Umwelt und Naturschutz in Berlin mit Verweis auf den gesundheitlichen Aspekt im Zusammenhang der PFAS. Sie zitierte eine Studie, wonach immer häufiger hohe Konzentrationen von PFAS im Blut vieler Menschen nachweisbar seien und bei jedem fünften Kind Gesundheitsprobleme aufträten. Dies könne in der EU hohe Gesundheitskosten führen. Kuhlmann forderte daher eine Überarbeitung der REACH-Verordnung, die zur Verbesserung des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor durch Chemikalien entstehenden Risiken und der gleichzeitigen Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie der EU erlassen wurde. Mit einer zielgerichteten Überarbeitung habe die Chemieindustrie nun die Chance, Vorreiter in einer nachhaltigen Industrie zu werden, so Kuhlmann.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass das vorgeschlagene pauschale PFAS-Verbot auch die von Schlipf genannte Gruppe von 38 Fluorpolymeren beinhaltet, die den Kriterien einer OECD-Klassifizierung für sichere Werkstoffe (PLC, Polymer of low concern) genügen. Diese inerten, ungiftigen und nicht bioakkumulierbaren Stoffe mit einzigartigen Funktionalitäten, die sie unter anderem für die Transformation zur Klimaneutralität unverzichtbar machen.
Sonja Jost, Geschäftsführerin des Start-Ups für Grüne Chemie DexLeChem, sah das Problem nicht im PFAS-Beschränkungsvorschlag selbst sondern in dessen Auslegung. Eine pragmatische und technisch sowie ökonomisch sinnvolle Auslegung sei notwendig. Sie verwies zudem auf die Chance, eine neue Industrie aufzubauen. „Nachhaltigkeit lässt sich nicht aufhalten“, so Jost und verwies auf die USA, wo Republikaner und Demokraten in seltener Einmütigkeit ein umweltrelevantes Gesetz zu nachhaltiger Chemie verabschiedet haben. Schlüssel für diesen Schulterschluss sei die Darlegung der nachhaltigen Chemie und der Transformation von Materialien für die Wettbewerbsfähigkeit vieler Industrien und Konsumentensegmente in diesem Gesetz. Man müsse über die Förderung innovativer Produkte sprechen, die nicht mehr mit der betroffenen Stoffgruppe arbeiteten. Mit Investitionen in Chemie-Startups von nur etwa 0,3% des gesamten Venture Capitals in Deutschland in 2018 (Studie im Auftrag des VCI: Innovationsindikatoren Chemie 2019), sei Deutschland kein innovatives Land und könne ohne entsprechende Förderung innovativer Alternativen auf Dauer auch nicht mehr wettbewerbsfähig sein.
Um die Verwendung von PFAS komme man nicht herum, erklärte dagegen Jonas Lang, Gewerkschaftssekretär ICBCE Bayern und rief zu einer sachlichen Debatte auf. Ziel müsse es sein, die Chemieindustrie in Deutschland zu erhalten und einer De-industrialisierung entgegenzuwirken. Lang mahnte einen Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde an und forderte mehr Planungssicherheit für die Unternehmen.
Die hohe Bedeutung von Stoffkreisläufen erläuterte Professor Dr.-Ing. Thorsten Gerdes von der Universität Bayreuth. Der Leiter der Keylab Glastechnologie hat an der Entwicklung der Upcycling-Anlage von Dyneon, einer Tochter des US-Konzerns 3M, mitgearbeitet. Es ist die erste und einzige Anlage, die ein chemisches Recycling von Fluorpolymeren ermöglicht. Allerdings hat der amerikanische Mutterkonzern entschieden, das Dyneon-Werk in Gendorf mit seinen derzeit 680 Arbeitsplätzen bis Ende 2025 zu schließen. Ein „Rückschritt für die Schließung der Stoffkreisläufe der Fluorpolymere“ und deren nachhaltiger Zukunft, sagte Gerdes. Denn dort wurde ein großer Teil aller in Europa insgesamt hergestellten PFAS produziert, die in vielen verschiedenen Sektoren von der Automobilindustrie bis hin zur Medizintechnik noch gebraucht werden.
Ein zukunftsfähiger Werkstoff solle sich über seine Gebrauchseigenschaften hinaus durch besondere Merkmale wie Kreislauffähigkeit, emissionsfreie Herstellung und Vermeidung von Emissionen auszeichnen. Der Professor rief dazu auf, den Ausstieg von 3M zu nutzen, als „Einstieg in eine green factory zur Herstellung von Fluorpolymeren am Standort Gendorf“.
Geschlossene Kreisläufe waren Dr. Bernhard Langhammer, Sprecher ChemDelta Bavaria, ebenfalls ein Anliegen. Schaffe man ein Regularium, so Langhammer, damit Fluorpolymere nicht in der Umwelt landen, dann sei das Restproblem überschaubar.
Für Zukunftstechnologien wie die klimaneutrale Energieerzeugung durch grünen Wasserstoff seien Fluorpolymere unerlässlich, hieß es aus den Reihen der Experten. Mehrheitlich forderten sie eine klare Positionierung der Staatsregierung, sahen die Zukunft im Upcycling, favorisierten das Prinzip der Risikoabwägung und sprachen sich für eine differenzierte Betrachtungsweise bei den Ewigkeitschemikalien aus.
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