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4. Dezember 2020EU-Chemikalienstrategie – sicher und nachhaltig auf dem Holzweg?
EU-Chemikalienstrategie – sicher und nachhaltig auf dem Holzweg?
Die EU-Kommission hat im Oktober 2020 ihre „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ (CSS) veröffentlicht. Mit zahlreichen Maßnahmen zum Gesundheits- und Umweltschutz ist sie Teil des Green Deals. Die Umsetzung wird weitreichende Folgen haben: Die europäische Chemikalienverordnung REACH, die CLP-Verordnung sowie viele andere Vorschriften sollen geändert und verschärft werden. Eine regelrechte Regulierungslawine rollt auf die Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie zu – inmitten einer bislang beispiellosen Wirtschaftskrise.
[cl-popup title=“Wichtige Inhalte der Chemikalienstrategie“ btn_label=“WICHTIGE INHALTE DER EU-CHEMIKALIENSTRATEGIE“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]
Die EU-Kommission plant neue Datenanforderungen, Verwendungsbeschränkungen und eine umfassende Regulierung von Stoffgruppen mit bestimmten Eigenschaften (z. B. Persistenz, Mobilität, endokrine Disruptoren). Ein Legislativvorschlag zur Änderung von REACH soll 2022 vorliegen. Beschränkungen von Chemikalien in Verbraucherprodukten und eventuell auch in professionellen Verwendungen sollen künftig oft ohne vorherige Risikobewertung und Konsultation der Hersteller im Schnellverfahren erfolgen. Bestimmte Polymere sollen registrierungspflichtig werden. Geprüft wird auch die Einführung eines Bewertungsfaktors für Gemische hinsichtlich möglicher Kombinationseffekte von Stoffen.
Unter CLP sollen mehrere neue Gefahrenklassen eingeführt werden, teilweise unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um Gefahrenmerkmale handelt. Die Chemikalienstrategie führt auch neue Begriffe ein wie „sichere und nachhaltige Chemikalien“, „bedenkliche Stoffe“ oder „essentielle Verwendungen“.
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Mit einer neuen „Hierarchie der Schadstofffreiheit“ soll der „Übergang zu inhärent sicheren Chemikalien“ geschaffen werden. Die Chemikalienstrategie setzt dabei auf einen stärker gefahrenbasierten Regulierungsmechanismus. Hat eine Chemikalie bestimmte Gefahreneigenschaften, so soll es zukünftig schneller möglich sein, die Produktion und Verwendung zu verbieten – ohne vertiefte Prüfung, ob tatsächlich ein Risiko für Exposition besteht.
Ein solcher Ansatz lässt allerdings außer Acht, dass es einen Übergang zu „inhärent sicheren Chemikalien“ im Wortsinn nicht geben kann. Denn, ob eine Chemikalie sicher und nachhaltig ist, kann eigentlich nur anhand deren Verwendung bewertet werden – und nicht als stoffinhärente Eigenschaft.
[cl-popup title=“Ist Wasser, Kochsalz oder Chlor inhärent sicher und nachhaltig?“ btn_label=“IST WASSER, KOCHSALZ ODER CHLOR INHÄRENT SICHER UND NACHHALTIG?“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]
Ein einfaches Beispiel ist Wasser. Wasser ist eine Verbindung, die extrem persistent, also beständig ist und nicht leicht/gar nicht abgebaut wird. Auch ist Wasser sehr mobil – es kann leicht die Grenzen der Umweltkompartimente überschreiten. Nach der Chemikalienstrategie sollen die Eigenschaften Persistenz und Mobilität aber bald als Gefahreneigenschaften eingeführt werden – und sogar als Kriterien für die Identifizierung besonders besorgniserregender Stoffe gelten. (Im Übrigen kann der Genuss von Wasser in Reinform auch gesundheitsgefährdend sein, da hierdurch dem Körper wichtige Elektrolyte entzogen werden. Auch in zu großen Mengen ist Wasser nicht gesund.)
Ein anderes Beispiel ist Kochsalz. Auch hier greifen die Kriterien der Persistenz und Mobilität. Zudem gibt es den Verdacht, dass Kochsalz für Bluthochdruck verantwortlich ist – möglicherweise also ein endokriner Disruptor (ED)? Nach der CSS wären ED-Eigenschaften jedenfalls möglicherweise bald ein SVHC-Kriterium und eine eigene CLP-Gefahrstoffkategorie.
Wäre Wasser oder Kochsalz also bald gar verboten? Natürlich ein völlig absurder Gedanke – der aber das offensichtliche Problem eines rein gefahrenbasierten Ansatzes aufzeigt. Selbstverständlich kann Wasser und Kochsalz völlig gefahrlos verwendet werden. Aber es kommt eben auch auf die sichere Verwendung an! Wasser als Schwimmmedium zu „verwenden“ ist halbwegs sicher, wenn man schwimmen kann – wenn nicht, eher weniger. Die maßvolle Verwendung von Kochsalz zum Würzen von Speisen ist sicher – der löffelweise Verzehr kann sogar tödlich enden. Vor allem zeigt es aber klar: Persistenz an sich ist noch nicht einmal eine Gefahr.
Aber sind Wasser und Salz nachhaltige Chemikalien? Die Verwendung von Wasser als Waschmedium dient der Hygiene und damit dem Gesundheitsschutz – sicher nachhaltig. Die Verwendung in der Wasserpistole vielleicht nicht so. Kochsalz als Gewürz – schwierig zu sagen. Im Winter zur Enteisung – vielleicht, weil man damit Unfälle verhindert…aber was ist mit Einträgen in Böden und Oberflächengewässer (Salzfrachten)…?
Wie man es dreht und wendet – es ist immer die Verwendung die nachhaltig oder nicht nachhaltig ist, nie der Stoff an sich. Wasser ist weder nachhaltig noch nicht nachhaltig und man kann nichts über das Risiko von Wasser sagen, ohne die Verwendung zu kennen.
Betrachten wir ein etwas „chemischeres Beispiel“: Chlor. Chlor ist unzweifelhaft eine sehr gefährliche Verbindung – beim Einatmen giftig. Auch braucht man für die Herstellung von Chlor durch Elektrolyse sehr viel Energie – sicherlich nicht nachhaltig, oder? Wenn man nun aber betrachtet, dass man Solarzellen nicht ohne die Verwendung von Chlor herstellen kann und weiß, dass es sehr wohl möglich ist, Chlor sicher zu handhaben…wie bewertet man die Situation dann?
All diese Beispiele zeigen, dass es eben immer wichtig ist, die Verwendung von Chemikalien zu betrachten und alle Dimensionen der Nachhaltigkeit – Ökologie, Ökonomie und Soziales – berücksichtigt.
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Das Ziel der schadstofffreien Umwelt kann in diesem Kontext nur dann unterstützt werden, wenn damit gemeint ist, dass eine sichere und nachhaltige Verwendung von Chemikalien gewährleistet wird, negative Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt minimiert werden sowie eine Identifizierung und das Management inakzeptabler Risiken erfolgt (was im Einzelfall auch ein Verwendungsverbot natürlich nicht ausschließt!). Man muss hierzu aber eben den gesamten Lebenszyklus von Chemikalien im Auge haben, Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachten und Regulierungsentscheidungen auf Basis von sorgfältigen Risikobewertungen treffen.
Es ist hingegen höchst unwissenschaftlich, sachlich falsch und grenzt an Populismus, wenn man mit dem politisch gefälligen Framing einer „schadstofffreien Umwelt“ der Öffentlichkeit fälschlicherweise suggeriert, man könne einen modernen und nachhaltigen Lebensstandard ohne jegliche gefährliche Chemikalien bestreiten (siehe die o.g. Verknüpfung von Chlor/Solarzellen).
[cl-popup title=“Gefahr + Exposition = Risiko“ btn_label=“Gefahr + Exposition = Risiko“ btn_bgcolor=“#1e73be“ btn_color=“#ffffff“ align=“center“ size=“m“]
Was ist der Unterschied zwischen Gefahr (engl. hazard) und Risiko (engl. risk)? Vielleicht wäre statt Gefahr das Wort „Gefährlichkeit“ treffender, aber üblicherweise bezeichnet man mit Gefahr eine Eigenschaft. Ein Löwe stellt eine Gefahr dar. Das Risiko von einem Löwen gebissen zu werden, hat man aber nur, wenn man sich in die Nähe von einem Löwen begibt und ihn ärgert – wenn man der Gefahr auch ausgesetzt ist. Das ist die Exposition (engl. exposure). In Deutschland ist das Risoko von einem Löwen gebissen zu werden gering. Die Exposition gegenüber Hauskatzen ist deutlich höher – die sind aber nicht gefährlich.
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Die chemisch-pharmazeutische Industrie nennt sich selbstbewusst auch #Lösungsindustrie – denn wie u.a. Grundstoffe für Solarzellen, Werkstoffe für Windräder, Materialien für Stromspeichertechnologien oder neue Verfahren zum chemischen Recycling zeigen, sind chemische Erzeugnisse und Verfahren essentiell für Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft oder um andere brennende Nachhaltigkeitsfragen zu lösen. Dafür braucht es aber eine Vielfalt an Chemikalien mit unterschiedlichen Reaktivitäten (was in der Regel auch Gefahrstoffeigenschaften einschließen kann), die nicht einfach undifferenziert, rein gefahrenbasiert in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt werden können. Denn Nachhaltigkeit und gefährliche Chemikalien schließen sich nicht aus – oftmals bedingen sie sich sogar.
Mit der Ausgestaltung der EU-Chemikalienstrategie steht die europäische Chemie an einem Scheideweg. Sollte die Chemikalienstrategie unverändert umgesetzt werden, wird sich die Zahl verfügbarer Chemikalien in Europa deutlich verringern. Gleichzeitig wird der Erfüllungsaufwand für regulatorische Pflichten stark steigen. Dies wird einen enormen Einfluss auf Investitionen und Innovationen haben und darüber entscheiden, ob die Lösungen der chemisch-pharmazeutischen Industrie zukünftig aus Europa oder aus Ländern mit (schon heute) weniger hohen Umweltstandards kommen werden. Denn die Kommission stellt selbst in der CSS fest, dass die EU bereits einen der umfassendsten und sichersten Regulierungsrahmen für Chemikalien hat, der sich weltweit auf die fortschrittlichste Wissensbasis stützt und ein weltweites Modell für Sicherheitsstandards setzt. Die Ziele des Green Deals wären also auch mit dem bestehenden Rechtsrahmen zu erreichen.
- Deshalb setzt sicher der VCI für folgendes ein:
- Stabilität und Planungssicherheit im Chemikalienrecht (gerade auch mit Blick auf die bislang beispiellose Wirtschaftskrise, ausgelöst durch den Corona-Virus)
- Keine verengte Nachhaltigkeitsdefinition verwenden
- Risikobasierten Ansatz unter REACH und internationalen Gleichklang von CLP erhalten
- Konstruktiver Dialog und Impact Assessment notwendig
Weitere Details können der VCI-Position „kompakt“ sowie einem ausführlicheren Papier in Deutsch und Englisch entnommen werden.
Bildquellen:
Titelbild: pixabay_avalanche-4391277_1280
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