Rückschlag für das Chemiegeschäft
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22. März 2019Energie: Strom und die Angst vor dem Absturz
München/Region. „Ohne Strom kein Wohlstand.“ Unter dieser Schlagzeile berichtete Heimatwirtschaft vor zwei Jahren über die Sorgen der Chemischen Industrie in Bayern – und vor allem im Bayerischen Chemiedreieck – um die Zukunft einer sicheren, in der Menge ausreichenden und im Preis wettbewerbsfähigen Energieversorgung. Das Thema gewinnt an Brisanz.
Die Sorgen nehmen drastisch zu. Die Abschaltung der letzten verbliebenen Kernkraftwerke (in Bayern: Gundremmingen Ende 2021 und Ohu 2 Ende 2022) rückt näher. Jüngst wurde auch der absehbare Ausstieg aus Braun- und Steinkohle als Energieträger im Bund beschlossen. Und der neue bayerische Wirtschaftsminister und stv. Ministerpräsient Hubert Aiwanger hat in seiner bisherigen Politik ganz klar seine Abneigung gegen Überlandtrassen, die in der Vorgängerregierung als Lösung der Stromsorgen in Bayerns energieintensiver Wirtschaft galten, bekundet.
„Die Situation ist bitterernst“, schreiben die Bayerischen Chemieverbände in einem aktuellen Positionspapier an die Staatsregierung: „Die derzeitige Energiepolitik gefährdet den Industriestandort Bayern nachhaltig. Man muss von nicht weniger als einer industriellen Zeitenwende sprechen, wenn es in Bayern nicht gelingt, Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Strompreise zu gewährleisten.“
Rund 20 000 Arbeitsplätze in der chemischen Industrie, ihre Lohnsummen sowie die Steueraufkommen zahlreicher Kommunen hängen allein im Bayerischen Chemiedreieck unmittelbar von einer wettbewerbsfähigen Stromversorgung ab. Und rund weitere bis zu 50 000 Arbeitsplätze werden wiederum nach bekanntem volkswirtschaftlichen Schlüssel von diesen Arbeitsplätzen in der chemischen Industrie in anderen Branchen mitgetragen.
„Nicht nur die Entwicklung des Freistaats Bayern vom Agrarstaat zum Industrieland (27 Prozent Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt, dass die sichere und kostengünstige Versorgung mit Energie – insbesondere Strom – eine der wesentlichsten Grundlagen wirtschaftlichen Erfolgs und gesellschaftlichen Wohlstands war und ist,“ schreiben die Chemieverbände in ihrem Positionspapier.
Im öffentlichen Diskurs um Verbrauch und Preise stehen vor allem die privaten Haushalte, auf die rund 25 Prozent des deutschen Stromverbrauchs entfällt, im Fokus; nicht aber die 45 Prozent, den die Industrie benötigt.
Allein die rund 20 Chemieunternehmen im Chemiedreieck haben einen Strombedarf von rund fünf Terawattstunden im Jahr – das ist fast ein Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs und rund doppelt so viel, wie die privaten Haushalte der Stadt München im Jahr verbrauchen.
Der größte Verbraucher ist hier die Wacker Chemie AG in Burghausen mit rund drei Terawattstunden im Jahr. Das sind rund 0,6 Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs. Benötigt wird der Strom dort zum überwiegenden Teil zur Herstellung von polykristallinem Silizium für die Solarindustrie und hochreinem Silizium für die Halbleiterindustrie – Grundlage für den vielbeschworenen Weg in die Digitalisierung.
Die Situation verschärft sich
Die chemische Industrie ist aufgrund ihrer anspruchsvollen Produktionsprozesse auf eine sichere, grundlastfähige Energieversorgung rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr unterbrechungsfrei im Millisekundenbereich angewiesen.
„Mit dem Abschalten der letzten Kernkraftwerke in 2022 fehlen in Bayern rund 5 Gigawatt gesicherte Leistung und ca. 40 Terawattstunden Arbeit“, hält das Positionspapier fest. „Und diese Situation verschärft sich jetzt weiter durch den jüngst beschlossenen Kohleausstieg, der eine weitere Säule gesicherter, das heißt grundlastfähiger Stromversorgung in einem Umfang von rund 45 Gigawatt installierter Nettoleistung in Deutschland wegschlägt, ohne dass hierfür eine realistische, grundlastfähige Alternative“ für den in der Industrie benötigten Bedarf in Sicht ist.
„Wind- und Solarkraftwerke können keine Grundlastfähigkeit bzw. gesicherte Leistung bieten. Dann bleibt möglicherweise nur Kohle- oder Atomstrom aus dem Ausland – wenn denn die Leitungen dafür vorhanden sind, wir tatsächlich von dort beliefert werden und das Ausland unserem Beispiel beim Kohle- und Atomausstieg nicht folgt“, befürchtet die Industrie im Positionspapier. „Ganz zu schweigen von den dadurch zu erwartenden Preissteigerungen und deren Auswirkungen auf die Wettbewerbs- und damit Überlebensfähigkeit der energieintensiven Industrie am Standort Deutschland. “
Die Reinvestitionsquote der energieintensiven Industrie in Deutschland liegt bereits seit dem Jahr 2000 unter den Abschreibungen. Eine schleichende Deindustrialisierung ist hier bereits seit Jahren in Gang, dabei haben sich gerade in den vergangenen 20 Jahren die Produktionsleistungen in Bayern und in Deutschland als Basis einer sicheren Wirtschaft erwiesen.
„Zu allem Überfluss werden jetzt auch noch die dringend benötigten HGÜ-Leitungen durch Teile der Bayerischen Staatsregierung mit unterschiedlichsten Begründungen wieder in Frage gestellt, deren technische Notwendigkeit in dem am 4. Februar 2019 der Bundesnetzagentur übergebenen aktuellen Netzentwicklungsplan 2030 von den vier Netzbetreibern nicht nur bestätigt wird – vielmehr wird darin sogar ein darüber hinausgehender Bedarf an zwei zusätzlichen HGÜ-Leitungen mit einer Kapazität von vier Gigawatt Übertragungsleistung festgestellt“, warnt das Positionspapier.
HGÜ-Leitungen dringend benötigt
Im gesamten Maßnahmenbündel sieht die Industrie die HGÜ-Leitungen als einen „dringend benötigten Baustein für die Versorgungssicherheit Bayerns.“ Das Infragestellen der Leitungen sei „nicht nur ein weiterer Schlag gegen die Versorgungssicherheit in Bayern“, sondern werde zudem „unweigerlich zu einer zweiten, teureren Preiszone im Süden führen.“ Bis dahin befürchtet die Industrie Kosten, unter anderem für Redispatch-Maßnahmen zur Sicherung der Netzstabilität, die sich schon heute in einer Größenordnung von 1,4 Milliarden Euro pro Jahr bewegen und weiter ansteigen werden.
Um die Lücke von ca. 40 Terawattstunden Arbeit zu schließen, wären laut einer Darstellung des Netzbetreibers Tennet rund 13 000 Windräder oder rund 2 Millionen Photovoltaik-Anlagen in Bayern erforderlich – ohne dass dadurch mit volatilem Strom das Grundlastproblem (Stichwort „Dunkelflaute“) gelöst wäre. „Speichertechnologien (zum Beispiel für eine „Dunkelflaute“) in den für den industriellen Bedarf erforderlichen Dimensionen stehen – wenn überhaupt – noch lange nicht zur Verfügung.
Mit Blick auf geforderte Einsparungen verweist die Industrie auf eine ansehnliche Bilanz: „Die energieintensive Industrie arbeitet natürlich schon aus wirtschaftlichem Interesse seit langem daran, möglichst viel Energie einzusparen. So hat sich zum Beispiel in der Chemie im Zeitraum von 1990 bis 2017 die Produktion um 69 Prozent erhöht, der Energieverbrauch gleichzeitig aber um 14 Prozent reduziert. Im selben Zeitraum ist auch die Emission der Treibhausgase um 48 Prozent gesunken.“
Das Einsparpotenzial stoße aber an physikalische Grenzen: „Strom ist bei chemischen Prozessen ,Rohstoff‘, der sich nicht beliebig reduzieren lässt, ohne den Prozess insgesamt zu gefährden. Eine Senkung des Stromverbrauchs ist dann nur noch durch eine Reduktion der Produktion zu erreichen.“ Und das wiederum würde Arbeitsplätze kosten.
Der Vorschlag, „die Versorgungssicherheit mit vielen kleinen Gaskraftwerken in Bayern sicherzustellen und dadurch die HGÜ-Leitungen einzusparen, scheitert bereits heute am bestehenden Strommarktdesign.“ Eine Änderung dahingehend, dass Gaskraftwerke rentabel betrieben werden können, bedeute zwingend eine Erhöhung der Strompreise mit den entsprechenden Folgen für die energieintensive Industrie, kalkulieren die Chemieverbände und folgern:
„Uns fehlt bis dato die Fantasie, uns vorzustellen, wie unter dem Regime der EU-Beihilfe-Richtlinien ein Anreizsystem für einen rentablen Betrieb bayerischer Gaskraftwerke aussehen soll, solange im Norden Überschussstrom zur Verfügung steht und die beschlossenen HGÜ-Übertragungsleitungen nach Bayern von Teilen der Bayerischen Staatsregierung wieder in Frage gestellt werden.
Ganz abgesehen von der Frage, wer die für einen rentablen Betrieb von Gaskraftwerken erforderlichen Subventionskosten übernehmen soll, die eine energieintensive Industrie in Bayern nicht tragen kann, wenn sie international wettbewerbsfähig produzieren und Arbeitsplätze in Bayern erhalten soll.
Quelle: Alt-Neuöttinger/Burghauser Anzeiger/Passauer Neue Presse
Das Positionspapier der Bayerischen Chemieverbände finden Sie hier
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