Eine technologieoffene Kreislaufwirtschaft braucht auch chemisches Recycling!
7. Juni 2022Bayerische Chemieverbände 1946-1971
19. Juni 2022Bayerische Chemieverbände 1971-1996
Immer wieder Schwerpunktverlagerung
In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand natürlich die wirtschaftspolitische Interessenvertretung gegenüber der Militärregierung und der bayerischen Staatsregierung und ihren nachgeordneten Behörden im Vordergrund. Die Rohstoffknappheit verlangte nach engen Kontakten zu den staatlichen Verteilungsorganen, wobei sich der Verein immer wehrte, in das Verteilungsgeschäft selbst unmittelbar einbezogen zu werden, das hätte der Neutralität gegenüber den Mitgliedsfirmen geschadet. So blieb es bei guten persönlichen Beziehungen, zum Beispiel zur Landesstelle Chemie innerhalb des Wirtschaftsministeriums.
Mit dem Erstarken der Konjunktur nach der Währungsreform und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft durch Professor Ludwig Erhard wuchs allmählich auch das Interesse an geordneten Arbeitgeber-/Arbeitnehmer-Beziehungen. Die Tarifpolitik gewann insbesondere nach Aufhebung des Lohnstops an Bedeutung. Die sozialen Gegenspieler von damals auf seiten der IG Chemie in Bayern waren Theo Lederer, Karl Tauer und später Alfred Kunzmann. Wenn man es nach heutiger Nomenklatur beurteilt, waren dies schon damals Vertreter eines sozialen Konsenses, einer sozialen Partnerschaft, die in der bayerischen chemischen Industrie bis heute Maxime des Handelns der beiden Partner geblieben ist.
In den Jahren der Voll-, ja Überbeschäftigung, als die Arbeitslosenquote im gesamten Bundesgebiet zeitweise auf unter 100.000 sank und die Verbände immer wieder Appelle an ihre Mitgliedsfirmen richten mußten, sich nicht gegenseitig Fachkräfte abzuwerben, waren hohe Tarifabschlüsse oft unvermeidbar. Sie lösten auch kaum Kritik aus, denn die Firmen mußten angesichts des angespannten Arbeitsmarktes ohnehin noch darüber hinausreichende übertarifliche Leistungen erbringen. Dem Erfindungsreichtum betrieblicher Sonderleistungen von Anwesenheitsprämien über Zusatzurlaubstage bis großzügigen Leistungslohnsystemen waren keine Grenzen gesetzt. Man kann es fast zynisch so formulieren: Es gab kaum eine gewerkschaftliche Forderung, die nicht schon vorher von einzelnen Arbeitgebern erfunden worden wäre.
Anfang der 70er Jahre gewannen wirtschaftspolitische Fragen, insbesondere der Umweltschutz, an Bedeutung. Damit trat das Image der chemischen Industrie in den Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Verbandsaktivitäten. Öffentlichkeitsarbeit auf breiter Grundlage, Leitlinien der chemischen Industrie zum Umweltschutz, Pressefahrten, Tage der offenen Tür, eine Broschüre wie „Chemie in Bayern“ führten schließlich zu dem heute noch aktuellen Projekt der chemischen Industrie auf Bundesebene „Chemie im Dialog“. Es soll die Leistungen der chemischen Industrie für Produktions- und Produktsicherheit, für die Umwelt, für ein verantwortliches Handeln im Sinne eines auch vor späteren Generationen verantwortbaren Resourcen-Verbrauches verdeutlichen und der Öffentlichkeit darlegen, welche Anstrengungen dieser Industriezweig in Richtung Umweltverträglichkeit seiner Produktion und seiner Produkte unternimmt. Andererseits durften die verbliebenen Restrisiken nicht verschwiegen werden.
Im sozialpolitischen Zuständigkeitsbereich erforderte der von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus auf höherem Niveau zurückbleibende Arbeitslosensockel eine entsprechende Reaktion der Tarifpolitik. Mußte sie in Zeiten der guten Konjunktur in der Regel nur darauf achten, mit den Tarifabschlüssen den ohnehin bestehenden Druck auf Einkommenserhöhungen vom Arbeitsmarkt her auf einem für alle Firmen verträglichen Niveau abzufangen, so hat andererseits der in den 90er Jahren eingeleitete Strukturwandel in Verbindung mit einer Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens die Tarifpolitik vor die Aufgabe gestellt, den Firmen genügend Spielräume für Eigenentscheidungen innerhalb des Ordnungssystems eines Tarifwerkes zu schaffen, ohne dabei den friedensstiftenden und ordnungspolitischen Nutzen eines Flächentarifes für eine ganze Branche in Frage zu stellen. Auch hier galt es wieder, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten.
Tarifpolitik muß zukunftsweisenden Trends folgen
Die Tarifvertragsparteien der Chemischen Industrie haben sich – auf Arbeitgeberseite in zunehmenden Maße auf Bundesebene koordiniert – als Motor moderner sozial- und tarifpolitischer Entwicklungen erwiesen. Sie sind häufig andere Wege gegangen als die übrigen deutschen Industriebranchen, insbesondere die Metall- und Elektroindustrie und haben dabei zukunftsweisende Akzente gesetzt. So wurde etwa 1974 der „Unterstützungsverein der Chemischen Industrie“ gegründet, der durch Beiträge der Arbeitgeber gespeist, unverschuldet arbeitslos gewordenen Chemiearbeitnehmern einen Zuschuß zum Arbeitslosengeld verschaffte und damit ein absolutes Kündigungsverbot für ältere Arbeitnehmer verhinderte. Die Chemie hielt auch bis heute an der paritätischen Besetzung ihrer tariflichen Schlichtungsstelle fest, um die Chancen für einen Tarifabschluß in freien Verhandlungen zu erhöhen, denn ein sogenannter neutraler Schlichter beeinflußt und blockiert oft das Aufeinander-Zugehen der Verhandlungspartner. Sozialpolitisch richtungsweisend war auch die Einführung eines einheitlichen Entgelttarifvertrages für Arbeiter und Angestellte im Jahr 1988. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit hat man in der Chemischen Industrie nie als eine Arbeitsplatz vermehrende Lösung zur Bekämpfung der wachsenden Arbeitslosigkeit angesehen, sondern nur in kleinen Schritten mit anderen Modellen der flexiblen Arbeitszeitgestaltung kombiniert:
So wurde schon 1985, also 11 Jahre vor dem Gesetzgeber, ein Tarifvertrag über Altersteilzeit vereinbart, ferner 1987 ein Tarifabkommen über Teilzeitarbeit geschlossen und tarifvertraglich zunehmend flexible Modelle zur Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitverkürzung angeboten. Aussetztage im Mehrwochenrhythmus, Einbau von Brückentagen und Freistellung am Jahreswechsel, sehr lange Verteilzeiträume bis hin zum aktuell geltenden Wochenarbeitszeitkorridor von 35 bis 40 Stunden ohne Zuschlagspflichten. Öffnung für betriebliche Lösungen statt starrer Tarifregelungen steht schon seit Jahren auf dem Programm der Chemie-Tarifvertragsparteien.
Verbände, die auch Arbeitgeber-Funktion haben, müssen sozialpolitische Trends beobachten, manchmal sogar selbst setzen und die entsprechenden tarifpolitischen Konsequenzen ziehen. Sie müssen dabei einerseits im engen Kontakt zu ihren Mitgliedsfirmen die betrieblichen Notwendigkeiten erkennen und danach handeln, andererseits aber auch selbst moderne Entwicklungen vorantreiben, ihren Mitgliedsfirmen nahebringen und ihre Umsetzung in die betriebliche Wirklichkeit fördern. Die Bayerischen Chemieverbände haben ihre Aufgabe immer in dieser Mittler- und Initiativ-Funktion gesehen und so gestalterisch und nicht nur passiv das Tarifgeschehen beeinflußt.
Gerade die breite Palette verbandspolitischer Aktivitäten innerhalb des doppelgleisigen Verbandsaufbaus, auf seiten der Wirtschaftspolitik mit vielen politischen Kontakten über ein von zahlreichen Experten der Chemie-Mitgliedsfirmen getragenes Netz von hohen Informationsstandards bis hin zu den Arbeitgeber-Verbandstätigkeiten im tarifpolitischen Bereich, in der arbeits- und sozialrechtlichen Einzelberatung, des reichen Angebots an Informations- und Ausspracheveranstaltungen, arbeitsrechtlichen Schulungen, Führungskräfte- und Meisterseminaren gewährleistet eine am Puls der Zeit orientierte Verbandsarbeit. Sie kann sich rasch und aktuell auf konkrete Situationsänderungen einstellen und gerät nicht in die Gefahr von Verkrustungen oder schablonenhafter Tätigkeit. Die 50jährige Geschichte der Bayerischen Chemieverbände beweist die Anpassungsfähigkeit ihrer Strukturen. Sie können schnell und effektiv reagieren, wenn es die Situation erfordert.
Blick nach vorne
Zum 50. Jubiläum hatte man sich daher entschlossen, statt einer historischen Aufarbeitung, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Die Vorträge des Festakts wurden später gebunden und bieten einen hochinteressanten Einblick in die Zukunftserwartungen der damaligen Zeit.
Hier gelangen Sie zur Festschrift.
Sie wollen mehr über die Bayerischen Chemieverbände wissen?
Lesen Sie hier über: